Über nicht anpassbare Materialismen*
Rachel O’Reilly (AU/DE)
Botschaften sind Teil der globalen modernen Machtmatrix — juristisch, ökonomisch und symbolisch —, geprägt durch das Modell des europäischen Nationalstaats. Ihre Architekturen verstärken und spiegeln das Kalkül und die Ausdauer westlicher Modelle immateriellen Rechts und Souveränität wieder, die schon immer den abstrakten Marktwert von der materiellen Rohstoffbasis getrennt haben. Modelle einer demokratischen Nation nahmen nach dem Zweiten Weltkrieg in der Zeit des Sozialismus, der nationalen und schwarzen Befreiungsbewegung und der Entkolonialisierung des Staates eine dialektischere Form an. Doch erst in den 1960er und 1970er Jahren hielt die durch indigene und bäuerliche Bevölkerungsgruppen artikulierte Kritik an den rechtlichen und ästhetischen Kategorien westlicher Wissenstradition in den Debatten um globale Gerechtigkeit im internationalen Rechtsraum Einzug. Dieser Essay wendet sich gegen eine europäische Imperialismuskritik und linke Ideale von universell verständlichen Formalismen — die im „globalen“ Betrieb zeitgenössischer Kunst immer wieder eine Rolle spielen —, um auf erkenntnistheoretische Fragen hinzuweisen, die dem Erzählen einer radikalen, nicht anpassungsfähigen zeitgenössischen Kunstgeschichte vorausgehen.
Verwirrende Entspannungspolitik
Der Kalte Krieg begann mit der Einführung der Atombombe durch die Vereinigten Staaten in die globale Matrix. Die erste Atombombe wurde 1945 in einer „Opferzone“ in New Mexico auf dem Land von Apachen und Navajo getestet, bevor diese auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden. Die USA hielten ein Datenmonopol über die Befunde und versuchten sofort, allerdings ohne Erfolg, ein Verbot von Atomwaffen durch die Vereinten Nationen zu erwirken. Als Großbritannien erkannte, dass die USA die wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht mit ihrem Verbündeten teilen würden, startete es 1945-1946 sein eigenes Programm. Im Juli 1947 sicherten sich die Vereinigten Staaten 2.000 Inseln Mikronesiens als „Treuhandgebiet Pazifische Inseln“ („Trust Territory of the Pacific Islands“). Es ist das einzige Treuhandgebiet dieser Art, das jemals von den Vereinten Nationen gewährt wurde. Das „Pazifische Testgebiet“ („Pacific Proving Grounds“) wurde zum Schauplatz von über hundert ergebnisreichen und hochfrequentierten Kernwaffentests, sowohl in der Erdatmosphäre als auch Unterwasser, welche schwere Folgen für die Inseln und ihre Bewohner*innen nach sich zogen. Die ersten Atomtests der Sowjetunion begannen nur zwei Jahre später im Jahr 1949. Indes waren in der Siedlerkolonie Australiens die Überlebenden unter den Aborigines von 1952 bis 1963 gezwungen, sich mit der Vergiftung ihrer Wasserwege, ihrer Totems, ihrer Lebensmittel und Verwandten auseinandersetzen zu müssen, in manchen Fällen bevor sie überhaupt zum ersten Mal einen weißen Mann gesehen hatten. Sowjetische Tests vergifteten bis in die 1990er Jahre Land und Leute in Semipalatinsk und Kasachstan (Südliches Testgebiet) sowie Novaya Zemlya (Nördliches Testgebiet), Usbekistan, der Ukraine und Turkmenistan.
Die Nuklearindustrie stattete die internationale Diplomatie mit einer neuen, vernichtenden Moralität aus, doch der Zugang zu Öl- und Seerouten blieb das Hauptziel der Militär- und Handelsstrategie. Zu Beginn des Konflikts war die Sowjetunion nach den USA und vor Venezuela der zweitgrößte innerstaatliche Ölproduzent der Welt. Seit dem Sieg der USA über die Spanier im Jahr 1899, der Besetzung Kubas und der Philippinen sowie der britischen Ölfunde in Persien im Jahr 1908, konsolidierte die Umstellung der Schiffsmotoren von Kohle auf Öl, das in den USA reichlich vorhanden war, einen angloamerikanischen Ozean. Während nach dem Zweiten Weltkrieg die USA weiter nach Ressourcen im Nahen Osten und in Niederländisch-Ostindien suchten, verwendete die Sowjetunion beinahe ihre gesamte Ölproduktion für das Wachstum des staatlichen Wirtschaftssystems innerhalb ihrer eigenen Grenzen. Mit der Ausnahme von Syrien und Kuba befanden sich alle sowjetischen Militärstützpunkte in der Sowjetrepublik. Im Vergleich dazu führte der Vertrag von San Francisco 1951 im Namen des Antikommunismus zur offiziellen Aufteilung der Welt in verschiedene Sektoren des US-Militärschutzes – NORTHCOM, SOUTHCOM, CENTCOM, EUCOM, PACOM und AFRICOM. Diese Aufteilung erzwang eine Neuzusammensetzung des Globus als die Vereinigten Staaten die britischen Seerouten übernahmen, die für den globalen Handel von zentraler von Bedeutung sind. Das U.S. Imperium positionierte Atomwaffen auf weit entfernten Land- und Wasserflächen, auf beladenen Schiffen, Flugzeugen und U-Booten und schloss umfangreiche Waffennutzungs- und Stationierungs-Abkommen mit den Alliierten ab. Das Zusammenspiel aus der Destabilisierung demokratisch gewählter Regierungen mit stehenden, einer Umstrukturierung der Wirtschaft im Einklang mit den Interessen der US-amerikanischen Kapitalisten markiert die Einführung des Neoliberalismus seit den 1960er und 1970er Jahren lange vor dem Mauerfall. Trotz kürzlichen Schließung von Hunderten von Stützpunkten im Irak und in Afghanistan, unterhalten die USA heutzutage weiterhin fast 800 Militärstützpunkte in mehr als 70 Ländern und Gebieten im Ausland. Im Gegensatz dazu beträgt die Gesamtzahl der britischen, französischen und russischen Stützpunkte ca. 30. Ein Blick auf diese unterschiedlichen Maßstäbe und anthropogene Materialitäten von Energie legt die Gewaltsamkeit der „Entspannungs“-Ära dar und gibt dem dyadischen Ost-West-„Mauer“- Narrativ selbst eine neue Ausrichtung als „normalisierende“, einseitige Geschichte des US-Imperialismus.
Nicht anerkannte und unsichtbare Arbeit
Selbstverständlich wurde der Horizont kommunistischer, politischer Praxis und Philosophie zunächst nicht im „Osten“, sondern im Westen als eine Weiterentwicklung der Ideale der französischen Aufklärung artikuliert. Durch den Begriff der Kommune denkend, verbannten Marx und Engels die Jägersammlergesellschaften in die Zeit des „Davor“ — und damit in voller Übereinstimmung mit den Präzedenzfällen der Naturgesetze und Lockes genozidalen Eigentumskonzepten —, um den „wissenschaftlichen Sozialismus“ als einen extrem historisch spezifischen, staatlich-industriellen Modus der Produktion darzustellen.
Vor der Übernahme Russlands durch die Bolschewiki wurden die Kolonien auf dem „fünften Kontinent“ im Jahr 1901 zu der ersten föderalistisch organisierten, sogenannten „Arbeiterdemokratie“ Australiens. Nach Jahrzehnten der Ausbeutung von Arbeitskräften und gewerkschaftlichem Aktivismus und vor dem Hintergrund der großen Verunsicherung in den oberen Gesellschaftsschichten angesichts unregulierter Migration, Grenzkriege und makroökonomischer Warenbewegungen im Verhältnis zu den übrigen britischen Kolonien, hatte die erste Labour Partei, die jemals durch ein Volk gewählt wurde, ihre Autorität in Australien durch einen „historischen Kompromiss“ von Kapital und Arbeit — nämlich durch festgesetzte Löhne und zentrale Schlichtungsverfahren – etabliert. Die Herangehensweise des neuen Siedlerstaates an nationale Einkommensstandards, Schutzzölle und die Erbringung staatlicher Leistungen brachte sofort den höchsten offiziellen Lebensstandard und die gleichmäßigste Einkommensverteilung für weiße Männer aus allen „entwickelten“ Nationen. Von Anfang an war die Gesetzgebung Ausdruck der Biopolitik des Gesellschaftsvertrags: Inmitten der anhaltenden Versklavung der Aborigines (die bis in die 1960er Jahre andauern sollte), wurden durch das Arbeitsgesetz der Pazifischen Inseln (Pacific Island Labourers Act) von 1901 die Inselbewohner*innen der Südsee, die seit den 1860er Jahren durch die australische Zuckerrohrindustrie entführt und versklavt worden waren, gewaltsam und willkürlich abgeschoben. Nach den anti-chinesischen Unruhen in den Goldfeldern beendete das Einwanderungsbeschränkungsgesetz von 1901 die gesamte außereuropäische Einwanderung und beinhaltete einen Diktatstest europäischer Sprachen, um nicht offensichtlich rassistisch zu erscheinen. Der Test wurde 1934 öffentlich angeprangert, als er dazu angewandt wurde, die Einreise des jüdisch-tschechischen Kommunisten und Aktivisten Egon Kisch zu verhindern, der wegen seines Widerstandes gegen den Nationalsozialismus von Deutschland aus ins Exil verbannt wurde.
Als die Kommunistische Partei Australiens (CPA) in den 1920er Jahren spontan gegründet wurde, verfügten die Aborigines bereits über hundertjährige Erfahrungen im Kampf gegen das, was die Partei in ihrem marxistisch-leninistischen Verständnis der „Nationalen Frage“ und ihrer vorrangigen Priorisierung eines Arbeiter-Internationalismus als „Rassenchauvinismus“ in den sich entwickelnden Nation bezeichnen würde. Seit der Föderation und der Benachteiligung und Schikane nicht-weißer Hafenarbeiter*innen im Zuge der White Australia Policy (erweitert als White Oceans Policy 1904), solidarisierten sich die Aborigines mit afroamerikanischen und westindischen Arbeiter*innen und gründeten die „Coloured Progressive Association“ in Sydney, die sich Garveys 2Universal Negro Improvement Association“ (UNIA) zum Vorbild genommen hatte. Zu dieser Zeit hatten sich die Bedingungen für schwarze Seeleute international verschlechtert, was dazu führte, dass die Zeitung Negro World ihre schwarze Leserschaft über die Situation der Aborigines informierte und umgekehrt. Dem Historiker John Maynard nach zufolge waren den Agitatoren der Aborigines, die in diesen Zeiten die Hafenviertel durchquerten, nicht nur mit den Leitideen Marcus Garveys, sondern auch mit den Schriften von Frederick Douglass, Booker T. Washington und W.E.B. Du Bois vertraut. Er führt auf, dass die Forderung der UNIA „nach einer Rückkehr nach Afrika den Aborigines in Australien nichts bedeutete, aber der Ruf um Anerkennung ihrer kulturellen Bedeutsamkeit und die Signifikanz ihrer eigenen Heimat bei den Aborigine-Führer*innen Resonanz fand.“ Inspiriert von dieser erweiterten schwarzen Imagination wurde 1937 die Australian Aboriginal Progressive Association (AAPA) als erste vereinte pan-aboriginale politische Kraft gegründet, nachdem in New South Wales unabhängige Reservate der Aborigines großflächig aberkannt wurden und den Familien auf brutale Weise Kinder entrissen wurden. Der AAPA gelang es, Konferenzen abzuhalten und 11 Niederlassungen zu gründen, obwohl die Bewegungsfreiheit der Aborigines in dieser Zeit stark eingeschränkt war. Diese Anfangsgeschichte der pan-aboriginalen Organisation, lange Jahre vor der Ära der „Black Power“ Bewegungen und der Kämpfe um Landrechte in der 1960er und 1970er Jahren wird meist entweder verschwiegen oder ist jenen Arbeiterhistoriker*innen, die Narrative einer politischen und vermeintlich einfallsreichen Führung radikaler, weißer Siedler*innen durch politische Aktionen im industriellen Umfeld bevorzugen, unbekannt.
Neben den inländischen Gewerkschaften begann sich die Komintern bereits 1928 mit den Rahmenbedingungen für indigene Rechte zu befassen, die sie den statistischen „Minderheitsrechten“ gleichstellte. Im Kontext des Siedlerkolonialstaats kämpfte die Komintern jedoch mit der kombinierten Machtüberlagerung durch rassifizierte Lohnunterschiede während und nach der legalen Sklaverei sowie durch all die Unterschiede, die allzu menschliche Ontologien auf Werttheorien, Formalismen und nicht-universale Sprachen in der Politik ausmachen. Laut des afroamerikanischen Kommunisten Harry Haywood veranlasste die Kritik schwarzer Delegierter an der Kommunistischen Partei der U.S.A. und die Kritik an einer ausschließlich weißen Delegation der Kommunistischen Partei Südafrikas die Unterkommission für Minderheiten der Komintern dazu, den Standpunkt aufzugeben, der besagt, die Interessen der „schwarzen nationalen Minderheiten“ könnten durch eine monolithische, monokulturelle, sozialistische Revolution vertreten werden. Gleichzeitig führte die Situation in Europa dazu, dass sich die Mitgliedszahlen der CPA in Australien durch die Priorisierung einer „gemeinsamen Front gegen den Faschismus“ anstiegen. Als die Aboriginal Progressives Association und die Aboriginal Advancement League 1938 die erste nationale Tag-der-Trauer-Kundgebung (Day of Mourning Rally) organisierten, um ein Zeichen gegen die Feierlichkeiten zum 150. Jubiläum der Proklamation der britischen Unabhängigkeit zu setzen (auch bekannt als „Australia Day“ ), kritisierte die Presse der CPA die Aborigines-Aktivist*innen dafür, dass sie Weiße von dem Treffen ausgeschlossen hatten.
Im Laufe des Kalten Krieges beschlagnahmte der Staat weiterhin das Land der Aborigines für Atomtests und den Ausbau der Bergbau- und Agrarindustrie. Die CPA und die Gewerkschaften begannen, sich aktiv mit Aborigine-Vertragsarbeiter*innen auszutauschen und unterstützten den historisch bedeutsamen Pilbara-Streik von 1946 und den Darwin-Aborigine-Arbeiterstreik von 1950-1951. Zur selben Zeit nutze der Staat die grassierende Paranoia um das vermeintliche Ausmaß der Aktivitäten der Kommunistischen Partei und den Neuzulauf in ihre Reihen, um Aborigines-Organisationen auszuspionieren — und deren Illegitimität zu propagieren. Im Jahr 1949, dem Gründungsjahr der DDR, kam es bei großen Streiks in den Kohleabbaugebieten in New South Wales zum ersten Mal in Friedenszeiten zum Einsatz von Militärtruppen, mit dem Ziel, einen Gewerkschaftsstreik von 23.000 Beschäftigten aufzulösen. Einigen Berichten nach zufolge hatte die CPA die Cominform-Politik angewandt, um eine Kritik am Reformismus der Labor Partei innerhalb der Arbeiterbewegung zu aktivieren. In Bezug auf den Kommunismus führte dies 1955 zu einer großen Spaltung innerhalb der Labor Partei. Die Führung der Labor Partei versuchte die CPA durch eine nationale Volksabstimmung vollständig zu verbieten. Der Widerstand gegen diesen Antrag führte dazu, dass die Labor Partei nicht in der Regierung vertreten war bis 1972 Gough Whitlam gewählt wurde.
Bob Boughton berichtete ausführlich über die Beteiligung der Kommunistischen Partei Australiens an den großen, von den Aborigines geführten Arbeiterstreiks und Walk-off-Aktionen, welche zeitgleich mit ihrem Engagement für eine gleichberechtigte Staatsbürgerschaft, bessere Löhne und Beschäftigungen, eigene Gerichte und dergleichen zusammenliefen. Trotz ihrer geringen Größe und ihres Haupteinflusses auf die Gewerkschaften, war die CPA die einzige politische Partei, die sich während eines Großteils des 20. Jahrhunderts gegen eine genozidale Assimilationspolitik in Australien aussprach. Dennoch war sie an sowjetische Anleitung und deren theoretische Modelle gebunden, sodass sie die Unterscheidung zwischen enteigneten städtischen Aborigines, die im Prozess der Proletarisierung als „fortschrittlicher“ eingestuft wurden, und in Aborigines, die in abgelegeneren Orten ansässig waren, übernahm. Von letzteren, die noch nach altüberlieferter Tradition auf dem Land lebten, wurde angenommen, sie wären des Landes auf „kultureller“ Ebene würdiger. Auf diese Weise reproduzierte die CPA die Taxonomien und entwicklungspolitischen Logiken, die vom Kolonialismus und der staatlichen Anthropologie gewaltsam aufgegriffen wurden und von assimilationistischen Missionaren „optimiert“ wurden. Erst in den 1950er Jahren vertrat die CPA die Position, dass alle Aborigines kollektive Rechte auf Land und Selbstbestimmung hätten. Der Wendepunkt der antikolonialen, materialistischen Vorstellung der CPA, weg von modernistischen Modi des Rechts, wurde mit dem siebenjährigen Streik der Gurindji-Farmarbeiter eingeläutet. Dieser begann 1966, als die CPA den Fokus ihres Kampfes strategisch und erkenntnistheoretisch verschoben hatte — weg von einer politischen Kampagne für gerechte Löhne im industriellen Kontext und hin zu den physischen Orten und der Besetzung ihrer Heimatländer — damit verschoben sie ihren Fokus auf den Kampf um Landrechte, den sie schließlich gewinnen sollten.
Unvergleichliche Materialismen
Nur wenn Geschichtsschreibung und Theoretisierung über Kunst von einem Materialismus ausgehen, der nicht an eine westliche, globale Rechtssetzung geknüpft ist, kann sie auf transformative Gerechtigkeit und ästhetische Projekte treffen, die das ablehnen, was Denise Ferreira da Silva als „zerbrochene Formen des modernen Denkens“ bezeichnet. Seit der Kolonialzeit verweigerten die Nationalstaaten den Indigenen und Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften die volle Staatsbürgerschaft. Dieser Ausschluss basierte zum Teil auf der Vorstellung, dass sich die indigenen Bevölkerungen nicht ausreichend von ihrer Umgebung gelöst hätten, um den notwendigen Grad an Selbstentfremdung zu verwirklichen, der dem für den Besitz von Eigentum erforderlichen Überschuss an Bewusstsein entspräche. Die durch die Pariser Kommune hervorgebrachte kommunistische Forderung nach der Abschaffung des Privateigentums befähigt hier nur begrenzt dazu, Gerechtigkeit in einem zivilisatorischem Sinne vergleichbar zu machen, da sich diese Forderung auf etwas bezieht, was durch die Eigentumslogik und den Rassismus des rein biopolitischen, an-ökologischen Vertrags der nationalstaatlichen Idee von vorneherein immer schon ausgeschlossen ist.
Aber der Imperialismus sowie der Widerstand dagegen waren schon immer ein Prozess, der einerseits über die Grenzen der verfügbaren Subjektivitäten und andererseits über die Figurationen der Alterität hinausgeht. Vom rechtswissenschaftlichen Grenzgebiet der Aborigines her betrachtet hält Irene Watsons Artikel über die Grundlagen des Rechts fest dass das Aborigine-Recht in allen Dingen existiert und ein breites Beziehungsnetz vorweist. Der materialistische Realismus in diesen Beziehungsverflechtungen zum Land schließt die nie mit eingerechneten Arbeitsleistungen und Unterhaltsarbeiten ein, die zur Pflege und Erhaltung des Landes beitragen, auch wenn diese Praktiken sich von einer der westlichen Wissenstradition gemäßen Definition von Arbeit unterscheiden, und bezieht damit Verknüpfungsmodelle ein, die fragiler werden können, zerrissen, vernachlässigt und zunehmend wortwörtlich giftig. Entgegen dieser Fülle indigener Materialitäten schreibt Robert Cover auf vergleichende Weise über die juristischen Tendenzen von Rechtsagenten des westlichen Staates, welche die verschiedenen Rechtstraditionen, die mit ihnen konkurrieren, durch Interpretation zerstören. Der Fokus auf Grenzziehungen, eine immateriell modellierte Souveränität sowie die unerschöpfliche Aneignung von Ressourcen machen den Staat zu einem zentralen Faktor der Gewalt. Für Cover ist die westliche Rechtsprechung nicht nur eine mörderische, sondern in diesem Sinne auch eine selbstmörderische, da es das chthonischen (Erdbewohner*innen-)Recht sowie weitere, alternative Rechtswelten und deren materielle Entsprechungen zerstört. „Gesetz ist eine Brücke zur Alterität“, schreibt Cover, und doch zerstört das Gesetz alternative Welten von rechtlicher Bedeutung. Bronwyn Lay, die Covers Gedanken weiterführt, vermerkt, dass das westliche Recht „dies aus Angst tut, da das Nomos oder das normative Universum, in dem wir leben, erhalten bleiben muss. Die Möglichkeit, eine alternative Welt der Bedeutung und des Wertes aufzubauen, birgt das Risiko des Verlusts und des potenzielles Chaos.“
Global betrachtet waren es nicht die Ereignisse von 1989, welche die normativ-institutionelle Ausrichtung — die durch nach kolonialem Vorbild operierende, europäische Siedler-Institutionen „verwaltet“ wurde — als solche freilegte und schrittweise in Richtung weltlicher, weniger hierarchischer, ästhetischer Paradigmen verschob. Es waren vielmehr die Ereignisse der 1960er und 1970er Jahre — also einer Zeit, in der das von den liberalen Ontologien vertretene und vom Kommunismus radikalisierte Gesamtbild des Verhältnisses von Kunst und Politik in der Moderne begann, brüchig zu werden. Gough Whitlam und andere verdrängte Figuren der Gründungsphase des von den USA dominierten Globus ließen sich in vielerlei Hinsicht von dem leiten, was Avantgarde-Künstler*innen am besten wissen sollten: nämlich, dass Autonomie eingesetzt und angewandt werden muss, wenn es ihr möglich sein soll, überhaupt in Bezug zu irgendetwas zu existieren. Eine der wichtigsten Hinterlassenschaften des Kalten Krieges und seiner Metaphern ist die Art und Weise, wie dieser als Ort der politischen Nostalgie über die Kohärenz von Feinden und Feindschaften im aktuellen Klima der allgegenwärtigen Grenzvermehrung, der Arbeitsplatzverluste und der Un/Sicherheit im generellen Sinn funktioniert. Für da Silva erzwingt die neoliberale kapitalistische Verwaltung der Nationalstaaten eine „juristisch-ökonomische Reform“ über das globale Abkommen zur Expansion und Konsolidierung des Marktes, zur Beschränkung von Arbeit, zum Abbau von Anrechten auf Sozialleistungen und materieller Umverteilung. Die nicht realisierte Demokratie wird hier weiter entmaterialisiert und in zunehmend durch soziale Herkunft angeleitete Formen von „Diversität“ überführt — eine atmosphärische Fata Morgana, in der epistemologisch bereits unvereinbare kulturelle und politische Rechte immer weiter von der Frage der Verwaltung, der Gewinnung und Verteilung von Kapital und Ressourcen entfernt werden.
Nicht-angepasste Kunst und planetarische Zeitgenössigkeit
Wenn „zeitgenössische Kunst“ zu einer Teleologie beiträgt, in der eine globalisierte liberale Meinungsfreiheit gegen die revolutionär-autoritären Staatsregimes des ehemaligen Ostens ausgespielt wird, dann stellt eine nicht-angepasste Kunstgeschichte solche abgeflachten Errungenschaften und Plattitüden als auch gleichsam die erkenntnistheoretischen Verfehlungen des Staatssozialismus in Frage. Für Jelena Vesić zeigt der polnische Kunsthistoriker Piotr Piotrowski einen Weg auf, durch den die „vampiristische Bewahrung von Konfigurationen des Kalten Krieges“ innerhalb eindimensionaler Teleologien in der zeitgenössischen Kunst nach 1989 überwunden werden kann. Durch seine laterale, unterschiedliche skalierte, vertikale Lesart lehnt Piotrowski es ab, den „Osten“ durch eine generisch marxistisch-leninistische Linse zu betrachten. Dabei hebt er die Unterschiede zwischen Schauplätzen und spezifischen ideologischen Staatsapparaten hervor, die verschiedene staatliche Kulturpolitiken und Richtlinien umsetzten und dadurch eine stärkere Differenzierung kunsthistorischer Interpretationen um scheinbar ähnliche Bewegungen in parallelen Momenten der Produktion ermöglichten. Für Vesic wird durch einen solchen Ansatz des kunsthistorischen Materialismus „die ‚innere Alterität‘ bestimmter Nationalstaaten im osteuropäischen Raum … nicht im Sinne der Ethnizität, sondern im Sinne von Apparaten“ auf produktive Weise vergegenständlicht. Dies ermöglicht eine Kunstgeschichte, die die infrastrukturellen Eigenheiten von Machtkonstellationen miteinbezieht sowie den internen Kosmopolitismus und die internationale Imagination lokaler Bewegungen innerhalb des „ehemaligen Ostens“ anerkennen kann und gleichzeitig lokal situierte Gegenwarten als auch einen überwiegend westlich interpolierten Kanon der globalen Kunstgeschichte zu überspannen vermag.
Piotrowskis Programm für eine horizontale und vergleichende Methodik, welche die dynamischen Peripherien der Weltkunst „vereinen“ könnte, um die westlich orientierte, universalisierte Kunstgeschichte endgültig zu überwältigen und zu dekonstruieren, entbehrt dennoch die Anerkennung (wie es die so oft gefeierte „postkoloniale“ Kunstgeschichte tut) des Fortbestehens einer Gewalt der Form im globalisierten liberalen Recht, die weiterhin der gleichen „realisierten“ Globalität zugrunde liegt. Es geht nicht nur um die richtige „Übersetzung“ einer eher lateral zugänglichen Aktualität, sondern um den fortwährenden Umgang mit den weiter bestehenden, zerstörerischen Praktiken der Landnahme sowie Arbeitsbeschaffung und -ausbeutung, die durch die neoliberale Logik der Markteffizienz immer dann neutralisiert werden, wenn das „Postkoloniale“ den Moment nach 1989 (als Erlösung) markieren soll. Sicherlich gibt es Anlass, die Errungenschaften neuer Erkenntnisse nördlicher Kunsthistoriker*innen zu würdigen, die seit Magiciens de la Terre (1989) ausstellungshistorisch in eine neue Phase der Auseinandersetzung mit Indigenität eingetreten sind. Allerdings lässt sich weder theoretisch noch materiell, weder mit Bourriaud noch mit Belting, irgendeine weltliche Postkolonialität des künstlerischen Ausdrucks lokalisieren, die die nord-westlichen Avantgarden dort ergänzt oder ihnen in dem Punkt entspricht, wo die normativen Rechtsprogramme der Neuzeit und der Gegenwart ihre lebensgefährdenden Paradigmen verdeutlichen. Für Vesić, Für Vesic, die immer noch im Geiste globaler Gerechtigkeit und (post-) sozialistischer, bündnisfreier Vermächtnisse denkt, „muss man neue Sphären entstehender Autorität, Macht und Werte suchen, finden und in Beziehung setzen . . . Die vielleicht größte Herausforderung und Notwendigkeit besteht darin, eine Position einzunehmen, von der aus man sowohl den modernistisch-westlichen Kanon als auch den zeitgenössisch-globalen Kanon kritisieren kann.“ Hier geht es zudem um die Dynamik zwischen Kritik und etwas Weiterem, wenn man sich der Kulturpolitik jenseits des Rahmens der Proletarisierung nähert, also aus der Perspektive von land-bezogenen Sozialitäten, denen das Anrecht auf Historizität gewaltsam und disziplinierend verweigert wurde. Unter der Logik dieses Umhergeisterns entstehen sowohl Ressentiments als auch ein „Wettlauf um die Theorie“, der die wahrgenommene Überflutung der zeitgenössischen Kunstgeschichte mit Praktiken umgibt, die mit dem politischen und ästhetischen Erbe des euro-amerikanischen Paradigmas nicht vertraut sind.
Wie aus der Zusammensetzung der aktuellen Kämpfe gegen alte und neue Toxizitäten hervorgeht, passten die bäuerlichen Bevölkerungen und insbesondere die Indigenen — die außerhalb von Löhnen und öffentlich transparenten Widerstandsbegehren unvergleichliche Arbeit leisten — nie in eine liberale noch in eine historisch-materialistische Darstellung des eigentlichen, universellen, politischen Subjekts und seines ästhetischen Paradigmas. Denn weder demokratische Ideale noch die verbliebenen christlichen Teleologien des kommunistischen Horizonts könnten jemals historisch oder epistemologisch für den grundlegend folgenreichen Schaden und die materielle Gewalt der Landenteignung zur Verantwortung gezogen werden. Und auch modernistische Modelle vermögen keine Analysen für kulturelle Produktions- und Instandhaltungspraktiken hervorzubringen, die außerhalb des Konzepts der Biopolitik trotz Imperialismus zu Erneuerungen im Stande sind.
Damals wie heute begreift der*die weiße/Siedler-Kunsthistoriker*in, Post-Autonome oder Operaist*in bestenfalls — ohne tatsächliches Verständnis — einen Multi-Ökonomismus und eine tiefergehende Handhabung der Sprache, die den Grenzen aller „zugehörig“ verfügbaren, d.h. oft gewaltsamen und mittelmäßigen ästhetischen Ausbildungen unter dem (jetzt späten) liberalen Globalismus voraus- bzw. über sie hinausgeht. Das Wissen über diese Geschichten beziehungsweise Verflechtungen der Solidarität schafft zudem keine vorgefertigten Werkzeuge für Kunst und Gerechtigkeit. Es markiert nur eine Art improvisatorisch wiederholtes Genre, das durch die Asymmetrien navigieren könnte, um Kapital und Wert umzuleiten. Konsensuelle europäische und koloniale Körperschaften sind hier von einer begrenzten, utilitaristischen Unerfahrenheit geprägt, die nicht dazu geeignet ist, dem Sorgerechtsdrama in der Verantwortung dieses nicht-allgemeinen Verständnis von Land, Sprache und Verwandtschaft die volle Beachtung zu schenken. Institutionen bleiben jedoch nach wie vor dem Aussterben geweiht, wo sie weiterhin solch vernichtende Formen des Denkens als normal und formal annehmen, welche diese Grenzparadigmen aufrechterhalten.
* Der Titel bezieht sich auf die nicht-alliierten Nationen, die während des Kalten Krieges auf nationale Unabhängigkeit, Souveränität, territoriale Integrität und Sicherheit in ihrem Kampf gegen Imperialismus, Kolonialismus, ausländische Aggression, Einmischung jenseits der Bipolarität des Kalten Krieges und Blockpolitik abzielte. Meine Arbeit über die Politik der Form entstand in Annäherung an dieses Archiv aus Gesprächen in Zusammenarbeit mit Jelena Vesic und Vladimir Jeric Vlidi, einschließlich unseres Essays
On Neutrality, The letter from Melos (Belgrade: Non-Aligned Modernity edition, Museum of Contemporary Art, 2017).
Die Autorin möchte gerne sich bei Megan Cope und Bernard Lüthi für die hilfreichen Anmerkungen und den Austausch zu den letzten Versionen dieses Artikels bedanken.
Rachel O’Reilly (Brisbane/Berlin) ist eine Künstlerin, Schriftstellerin, Kuratorin und Lehrende (Niederländisches Kunstinstitut), deren Arbeit die Beziehungen zwischen Kunst und verorteter kultureller Praxis, ästhetischer Philosophie und politischer Ökonomie untersucht. Sie war Resident an der Jan van Eyck Academie, Kuratorin an der Australian Cinematheque und der Fifth Asia Pacific Triennial of Contemporary Art, wo sie die Filme von Kumar Shahani archivierte, und in jüngster Zeit war sie als Co-Kuratorin tätig von ‚Infrastructural Rifts: Souls and Soils of Disaster Developmentalism‘ für die DAI Roaming Academy und ‚Planetary Records: Performing Justice between Art and Law‘ für die Contour Biennale, Mechelen. Zu den Veröffentlichungen gehören: Neutralität: Aus dem Brief von Melos an die blockfreien Bewegung(en) mit Jelena Vesić (Haus der Kunst Goethe Fellow) und Vladimir Jerić Vlidi, und Infrastrukturen der Autonomie an der Berufsgrenze: Kunst und der Boykott von/als Kunst, mit Danny Butt, Journal of Aesthetics and Protest. Ihre künstlerische Arbeit und Forschung über unkonventionellen Extraktivismus wurde am Institute of Modern Art, Eflux, Van Abbemuseum, Qalandiya International, Savvy Contemporary, Tate Liverpool und als Teil von Frontier Imaginaries präsentiert. Ihr Engagement für die kuratorische Ethik wird durch ihre beratende Funktion in der Place, Ground and Practice Group der International Society for Electronic Arts und ihre Einladung zu Future South(s), ein Online-Dialognetzwerk von Künstlern, Kuratoren, Theoretikern und Historikern der UNSW, deutlich. Ihre Arbeiten wurden von Cambridge Scholars Press, MIT Press, Postcolonial Studies, Eflux Journal und in vernetzten E-Books veröffentlicht.